Cynefin

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Cynefin ist ein Framework zur Entscheidungsfindung. Es unterstützt dabei, den Kontext eines Projektes, eines Produktes oder einer Organisation begreifbar zu machen und Situationen richtig einzuordnen, um daraus Vorgehensstrategien ableiten zu können.

Das Framework wurde 1999 von Dave Snowden bei IBM entwickelt und seitdem in vielen unterschiedlichen Umgebungen eingesetzt. Ein Beispiel (Homeland Security) ist am Ende des Blogbeitrags verlinkt.

Cynefin [kə’nɛvɪn] ist ein walisisches Wort und kann am ehesten mit „Lebensraum“ übersetzt werden. Snowden hat den Begriff gewählt, um die Vielfalt an Wechselwirkungen zwischen Personen und ihrer Umwelt zu verdeutlichen. Die Essenz von Cynefin ist es, unterschiedliche Probleme unterschiedlich zu adressieren, anstatt zu versuchen, sie alle mit der gleichen Vorgehensweise zu lösen.

Die fünf Domänen

Cynefin unterteilt den Kontext in fünf Domänen, aus denen sich generelle Handlungsstrategien ableiten lassen. Zwischen den Domänen gibt es keine starren Grenzen und Themen können sich mit der Zeit in benachbarte Domänen verlagern.

Die fünfte Domäne ist in der Mitte angeordnet und beschreibt einen Zustand, bei dem keine Einigkeit darüber besteht, in welcher Domäne man sich befindet.

Einfache Domäne

Die einfache Domäne, ursprünglich simple, später obvious und aktuell clear genannt, beschreibt einen geordneten Zustand in einem stabilen Umfeld. Ursache und Wirkung sind bekannt und offensichtlich (known knowns). Es kann faktenbasiert gehandelt werden. Aufgaben können über Best Practices und anhand von Checklisten umgesetzt werden. Die Umstände sind eindeutig und es gibt wenige Variablen.

Snowden gibt für dieses Umfeld die Handlungsempfehlung sense, categorize, respond:

  • sense: sich einen Überblick über die Fakten verschaffen
  • categorize: die Situation einordnen
  • respond: bekannte Regeln oder Best Practices anwenden

Ein Beispiel für eine einfache Domäne ist der Aufbau eines Möbelstücks aus dem Möbelhaus:

  • sense: Welche Teile sind im Lieferumfang enthalten? Wo ist die Montageanleitung?
  • categorize: Welche Werkzeuge benötige ich? Kann ich das Möbelstück alleine aufbauen oder brauche ich eine zweite Person? Wie viel Platz brauche ich?
  • respond: Montageanleitung folgen und Möbelstück aufbauen

In einer einfachen Domäne können strikte Vorgaben für das Handeln gesetzt werden (rigid / fixed constraints). Ist die Montageanleitung gut, dann sollte ich von dieser nicht abweichen.

Weitere Beispiele für einfache Domänen sind Lagerarbeiter in der Logistik oder Mitarbeiter in einem Callcenter.

Komplizierte Domäne

Die komplizierte Domäne beschreibt ebenfalls einen geordneten Zustand, allerdings sind Ursache und Wirkung nicht offensichtlich. Sie zu erkennen erfordert Analyse und Expertise (known unknowns). Spezialisten sind erforderlich, um komplizierte Probleme anzugehen. Es kann faktenbasiert gehandelt werden, allerdings gibt es eine Vielzahl an Variablen und meist auch viele richtige Antworten auf ein Problem. Snowden beschreibt die Vorgehensweise in dieser Domäne deshalb als Good Practice und schlägt als Handlungsempfehlung sense, analyze, respond vor:

  • sense: die Fakten bewerten
  • analyze: die Details analysieren
  • respond: angemessene, bewährte Praktiken anwenden

Ein Beispiel für die komplizierte Domäne ist der Bau eines Autos oder eines Hauses. In einer komplizierten Domäne wirken oft mehrere Kompetenzen zusammen: Weder ein Auto noch ein Haus können von einer Person allein gebaut werden. Da es keine eindeutige Lösung für ein Problem gibt, bedarf es eines größeren Grades an Freiheit als in der einfachen Domäne. Snowden beschreibt dies als governing constraints („leitende Beschränkungen“).

Komplexe Domäne

Die komplexe Domäne beschreibt einen ungeordneten Zustand. Ursache und Wirkung sind erst im Nachhinein bekannt (unknown unknowns). Es gibt keine richtigen Antworten und viele konkurrierende Ideen. Handlungen können Situationen entweder stabilisieren oder eskalieren, da es viele Einflussfaktoren in wechselseitiger Beziehung gibt. Snoweden schlägt einen heuristischen Ansatz vor um Probleme zu lösen. Dazu zählen Vorgehen wie Trial & Error, Ausschlussverfahren und das Auswerten von Stichproben. Kreativität, Diversität und Innovation sind wichtig, um langfristig bestehen zu können. Snowdens Handlungsempfehlung für diese Domäne lautet probe, sense, respond:

  • probe: geeignete Umfelder erschaffen, verschiedene Experimente ausprobieren und darauf vorbereitet sein, dass diese nicht funktionieren
  • sense: Erkenntnisse aus den Experimenten sammeln
  • respond: Muster erlernen und das eigene Handeln anpassen („lessons learnt“)

Beispiele für komplexe Domänen sind Ökosysteme, politische und gesellschaftliche Systeme und die Einführung neuer Produkte und Dienstleistungen. Snowden beschreibt das Vorgehen in komplexen Domänen als Emergent oder Exaptive Practice. „Emergent“ ziehlt darauf ab, Vorgehensweisen aus Experimenten abzuleiten. „Exaptation“ ist ein Begriff aus der Biologie, der die Zweckentfremdung eines evolutionsbegründeten Merkmals beschreibt. Ein Beispiel dafür ist bei Vögeln die Verwendung der Flügel zum Fliegen: Die Flügel dienten ursprünglich nur zur Regulierung des Temperaturhaushaltes. Snowden zielt mit dem Begriff auf die Notwendigkeit von Innovation und Kreativität in einer komplexen Domäne ab. Um diese zu erreichen empfiehlt Snowden enabling constraints („möglich machende Rahmenbedingungen“). Dazu gehören Freiheit, eine gesunde Fehlerkultur und die Akzeptanz, dass Ansätze scheitern können.

Chaotische Domäne

Die chaotische Domäne beschreibt einen ungeordneten Zustand. Ursache und Wirkung sind unbekannt. Es gibt starke Turbulenzen, viele Entscheidungen müssen getroffen werden, aber es bleibt keine Zeit zum Nachdenken. Die chaotische Domäne erfordert schnelles, entschlossenes Handeln, Notfallpläne und gegenseitige Hilfen. Snowden empfiehlt für diese Domäne den Ansatz act, sense, respond:

  • act: handeln, um Ordnung wiederherzustellen
  • sense: wahrnehmen, wie Stabilität erreicht werden kann
  • respond: reagieren um die chaotische in eine komplexe Domäne zu überführen

Snowden beschreibt das Vorgehen als Novel Practice, da keine Erfahrungen im Umgang mit einer solchen Situation vorhanden sind und empfiehlt als Rahmen no constraints („keine Beschränkungen“). Beispiele für chaotische Domänen sind der Anfang der Corona-Pandemie, die Terroranschläge vom 11. September, Börsencrashes und Folgen von Naturkatastrophen wie der Nuklearkatastrophe von Fukushima.

Gestörte Domäne

Die fünfte Domäne wird als disorder und confusion bezeichnet – zum Zeitpunkt dieses Beitrags seit kurzem aktualisiert als A/C (aware/aporetic und confused). Ich finde die lockere deutsche Übersetzung „gestört“ passend. In dieser Domäne ist unklar, in welcher der vier Domänen man unterwegs ist bzw. es gibt keine Einigkeit darüber unter den Entscheidern.

In einer gestörten Domäne passen Problem und Handlungen nicht zueinander, was es unmöglich macht, gute Entscheidungen zu treffen. Es ist wichtig, dass man zunächst überhaupt realisiert, dass man sich in einer gestörten Domäne befindet. Anschließend sollte dann so schnell wie möglich Einigkeit darüber herstellen, in welche Domäne man sich einordnet. Dabei kann es helfen, die Domäne in mehrere konsistente Blöcke runterzubrechen und diese jeweils einer Domäne zuzuordnen.

Anwendung

Cynefin hilft, sich des Problemkontextes bewusst zu werden und ein gemeinsames Verständnis aufzubauen. Das Framework dient als Orientierungshilfe und stellt keine Universallösung dar. Die Unterteilung in Domänen erlaubt es, besser einzuschätzen, welche Ansätze gut sein können und welche nicht.

Ein starres Regelwerk und strenge Hierarchien sind z.B. maximal für komplizierte Umgebungen geeignet. Scrum als agile Vorgehensweise kann komplizierte und komplexe Domänen sehr gut adressieren, ist jedoch für die chaotische Domäne ungeeignet und für einfache Domänen überdimensioniert. Komplexen und chaotischen Domänen begegnet man am Besten mit kleinen, selbstorganisierten Teams, dezentralen Entscheidungen und kurzen Iterationszyklen. Vereinfachungen der Domäne führen oft zu Problemen. So wird Softwareentwicklung gelegentlich in der einfachen Domäne eingeordnet, was meist zur Folge hat, dass die Qualität vernachlässigt wird („wir schreiben keine Tests“), das Endergebnis nicht den Erwartungen entspricht und nicht in der anvisierten Zeit fertig gestellt wird.

Beziehung zwischen den Domänen

Mit der Zeit ändert sich die Domäne üblicherweise im Uhrzeigersinn, von chaotisch zu komplex, von komplex zu kompliziert und von kompliziert zu einfach. Dies ist darin begründet, dass im Laufe der Zeit immer mehr Erfahrung gesammelt und neues Wissen bekannt wird. Wechsel in eine andere Domäne können von Automatisierung oder Digitalisierung begleitet werden.

Eine Veränderung gegen den Uhrzeigersinn ist möglich, wenn etwa Wissensträger das Team verlassen oder es disruptive Entwicklungen gibt. Ein Beispiel für einen Übergang einer komplizierten Domäne in eine komplexe ist für viel Autobauer der Aufstieg des Elektroautos und das Ende des Verbrennungsmotors.

Eine einfache Domäne kann in eine chaotische übergehen, wenn disruptive Entwicklungen nicht erkannt oder zu lange ignoriert werden. Ein Beispiel dafür ist Kodak: Einst eines der bedeutsamsten Unternehmen für fotographische Ausrüstung und Filmmaterial, musste es, überrumpelt von der disruptiven Entwicklung der digitalen Fotographie, im Jahr 2012 Insolvenz anmelden.

- Einführung in das Framework von Dave Snowden
- Einsatz von Cynefin im Kontext von Homeland Security
- Begriffsdefinition Exaptation