
Shuhari (守破離) beschreibt den Weg des Lernens in drei Schritten und wird auf Fuhaku Kawakami, einen japanischen Meister der Teezeremonie aus dem 18. Jahrhundert, zurückgeführt. Shuhari kann auf verschiedenste Disziplinen angewandt werden, etwa das Erlernen einer Sportart oder eines Musikinstrumentes. Es wird aber auch häufig bei der Einführung agiler Methodiken wie Scrum oder Kanban angeführt.
Shu
Shu ist der erste Schritt auf dem Weg zur Meisterschaft und kann mit beschützen oder befolgen übersetzt werden. Beim Shu geht es darum, die Grundlagen zu erlernen und zu verstehen. Ein tiefgreifendes Verständnis der Grundlagen ist elementar, denn nur so kann man später, wenn man sich von diesen löst, einordnen ob man in die richtige Richtung läuft.
Bezogen auf Scrum macht man sich in dieser Phase zum Beispiel mit den verschiedenen Scrum Events vertraut. Man hält Plannings, Reviews, Retros und das Daily Scrum ab, ist aber in der Durchführung der Termine noch nicht vollends routiniert. Vielleicht laufen die Events auch noch nicht so effektiv, dass man sie allesamt als Mehrwert empfindet.
Ha
Der zweite Schritt kann mit aufbrechen oder zerreißen übersetzt werden. In der Ha-Phase ist das Fundament bereits aufgebaut. Die Grundlagen sind Routine und die Hintergründe bekannt. Dieser Wissensstand lässt Raum für Innovationen. Mit dem Einbau kleiner Abweichungen wird die Umsetzung auf die eigene Situation bzw. die eigenen Bedürfnisse zugeschnitten.
Bezogen auf Scrum macht ein Team vielleicht die Erfahrung, dass ihm das Schätzen von User Stories bisher mehr Nach- als Vorteile gebracht hat. In den Refinements kam es regelmäßig zu ausufernden Diskussionen, ob eine Story nun drei oder fünf Punkte bekommen sollte. Trotz der Schätzungen war das Sprint-Backlog am Ende des Sprints oft noch nicht abgearbeitet. Das Team will zukünftig auf konkrete Schätzungen verzichten und den Fokus eher darauf setzen, die Stories möglichst ähnlich umfangreich zu schneiden. Im Planning werden pauschal die nächsten acht Stories mit in den Sprint genommen und dann nach Bauchgefühl nach oben oder unten korrigiert.
Ri
Ri kann mit verlassen oder abschneiden übersetzt werden und bezeichnet die dritte Phase, in der die Meisterschaft erlangt ist. In dieser Phase wird das Bestehende hinter sich gelassen bzw. übertroffen. Die langzeitigen Erfahrungen und die eigene Kreativität ermöglichen es, etwas völlig Neues und Gleichwertiges, vielleicht sogar Besseres, zu erschaffen.
Das Spotify-Modell ist ein ansehnliches Beispiel, wie ein Unternehmen sich von Scrum gelöst hat, um für die eigenen Bedürfnisse etwas Passenderes zu entwickeln. Das Spotify-Modell behält Product Owner, Product Backlog und das Grundgerüst des Sprints, stellt sich aber organisatorisch anders auf und macht Scrum skalierbar. Teams heißen nun Squads. Eine Gruppe von Squads ist ein Tribe. Zum übergreifenden Austausch zwischen Squads gibt es ein neues Event Scrum of Scrums. Analog einer Community of Practice tauschen in einer Guild Vertreter verschiedener Squads Wissen und Erfahrungen aus. Das Spotify-Modell ist sicherlich nicht allgemeingültig besser als Scrum und sollte auch nicht von jedem blind übernommen werden, aber es ist das Ergebnis intensiver Auseinandersetzung mit Scrum, ein Produkt der Ri-Phase und ein nach Empfinden von Spotify für die eigenen Bedürfnisse geeigneteres Framework.
Von Innen nach Außen

Shuhari kann man sich als einen Kreis vorstellen, in dem das Ha das Shu beinhaltet und das Ri sowohl das Shu als auch das Ha enthält. Während beim Shu die Grundlagen noch erlernt werden, sind diese beim Ha weiterhin bekannt. Durch das tiefere Verständnis stehen jedoch die Werte und Prinzipien im Vordergrund. Im Ri werden das im Shu und Ha Erlernte berücksichtigt. Die umfangreichen Erfahrungen machen es möglich, Bestehendes neuen Ideen gegenüberzustellen und diese professionell einzuordnen.
Die direkten Übersetzungen der Begriffe Shu, Ha und Ri klingen etwas holprig. Mit folgendem Merksatz lässt sich die Botschaft von Shuhari ganz gut auf den Punkt bringen: Follow the Rule (Shu) – Break the Rule (Ha) – Make the Rule (Ri)
Vom Shu zum Ha
Bei gescheiterten agilen Transformationen lässt sich oft beobachten, dass Teams zu früh vom Shu zum Ha wechseln. Wenn Sätze fallen wie „Das haben wir schon versucht, aber es hat nicht funktioniert“ und „Wir machen Scrum, aber…“ dann deutet das darauf hin, dass die Shu-Phase nicht erfolgreich gemeistert wurde, Regeln und Grundsätze also missachtet oder verworfen wurden, bevor die Grundlagen verstanden und erlernt waren. Im Englischen gibt es den Begriff scrumbut, der dieses Phänomen bei der Einführung von Scrum auf den Punkt bringt. „We do Scrum, but…“ – Wir machen Scrum, aber ohne Scrum-Master. Wir machen Scrum, aber Retros lassen wir weg. Wir machen Scrum, aber das Daily machen wir nur einmal die Woche. Scrumbuts sind nicht notwendigerweise schlecht, aber wer zu früh aufgibt und Aspekte einer Disziplin außer Acht lässt, bevor die Grundlagen verstanden sind, wird in dieser Disziplin wahrscheinlich nie die Meisterschaft erlangen.
Fazit
Shuhari kann einem Orientierung beim Erlernen einer Disziplin geben. Mir hilft es dabei in beiden Richtungen: Es bewahrt mich davor, mich zu weit von einem Konzept zu entfernen, das ich anwenden möchte, aber noch nicht in Gänze verstanden habe. Und es bewahrt mich davor, zu sehr an einem strikten Regelwerk festzuhalten, denn vor allem auf der Arbeit gilt für mich immer: Frameworks und Methodiken dienen der Organisation – nicht umgekehrt.